Ich möchte euch heute die Geschichte meines letzten Hörsturzes erzählen. Eigentlich möchte ich euch die Geschichte nicht erzählen, sondern ich will, dass ihr euch hinein versetzt, es selbst fiktiv erlebt und versucht, es nachzufühlen. Nur ansatzweise. Vielleicht ist es klug, wenn ihr vorab in das Stück rein hört, bei welchem das Unglück passiert ist. Dann kommt mein Erlebnisbericht – welcher in mittelfristiger Zukunft auch ausführlicher in Buchform veröffentlicht werden soll – auch lebhafter rüber:
Ich möchte euch nun auf eine Reise zu einem Blasmusikwettbewerb nach Italien mitnehmen, wo mein altes Leben endete:
„Vorfreude und Spannung liegt in der Luft. Ich sitze mit meiner Trompete auf der Bühne der Konzerthalle in Riva del Garda, wo alljährlich der „Flicorno d‘ Oro“, ein internationaler Blasmusikwettbewerb in verschiedenen Leistungsstufen absolviert wird. Diesmal ist auch die Stadtmusikkapelle Wilten mit mir auf der Trompete dabei. Das Stück „Tulsa - a Symphonic Portrait in Oil“ von Don Gillis, welches wir in wochenlang geprobt haben, liegt am Notenpult auf. Die Komposition ist technisch anspruchsvoll für alle Stimmen und Register, teilweise auch richtig laut. Doch durch das selbständige Pegeln meines Hörgeräts, fühle ich mich gut geschützt.
Das Adrenalin ist greifbar, es wird ernst. Unser Dirigent hebt den Taktstock und lächelt ein letztes Mal selbstbewusst in die Runde. Zuerst erklingt ein ruhiges Thema mit den Holzbläsern in der Hauptrolle, welches mit seinem pastoralen Charakter die unberührten Weiten von Oklahoma akustisch vorstellt. Vor allem das Flötenregister brilliert hier mit lieblichen Klängen. Jäh wir das Stück von den weißen Eroberern unterbrochen – das Hornregister gibt alles. Kurz darauf gibt es erste mehrstimmige Trompetensignale, welche gut gelingen – auch mein erster Einsatz ist geglückt. Das Stück wird gleich in mehrere brutale und laute Tuttistellen münden, was die Invasion der Weißen und die Umwandlung der einstig unberührten Natur in eine moderne Zivilisation hörbar machen soll. Ich freue mich auf diese Passagen: Immerhin haben wir diese wochenlang geprobt und endlich können wir das Geübte den Zuhörern und der Jury präsentieren. Allerdings gibt es kurz davor für das Trompetenregister noch eine kleine Verschnaufpause – vergleichbar mit der Raubkatze kurz vorm Todessprung.
Endlich kommt die tutti-Passage, ich hole tief Luft und spiele im saftigen „fortissimo“ die ersten Töne. Und plötzlich vernehme ich ein Krachen, gefolgt von einem Rauschen und einem lautem Pfeifton. „Da stimmt irgendwas nicht“, denke ich mir, spiele aber weiter. Von weiter Entfernung, durch das lauter werdende Rauschen und dem Pfeifton hindurch, höre ich meine Kollegen und kann so im Rhythmus bleiben. Doch irgendwas muss gerade gehörig schief gelaufen sein. Ich habe im Stück wieder Pause, verzweifelt schau ich mich um: Ist irgendein Handy abgegangen? Nein, das kann nicht sein, es liegt ausgeschalten in meinem Trompetenkoffer. Feueralarm? Nein das geht auch nicht, die andern Leute hören konzentriert zu. Hat mein Hörgerät den Geist aufgegeben? Möglich, doch das Rascheln durch kurzes Kratzen mit dem Finger am Hörgerät-Mikrophon konnte ich dem Pfeifton und dem Rauschen zum Trotz vernehmen. Ich blicke zurück: Vielleicht haben ja die Schlagzeuger irgendein Gerät umgestoßen? Doch nein, alles steht an seinem Platz.
Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Ich erlebe gerade live einen Hörsturz. Leere strömt in mich ein. Es ist, als hätte wer gerade die Zeit angehalten. Mein Blick ist stoisch auf das Notenblatt gerichtet und eine Sekunde kommt mir vor wie eine Minute. Unzählige Gedanken strömen schnell in mich ein:
Warum ich? Das ist nicht wahr? Soll ich jetzt aufstehen und einfach gehen – das geht nicht, ich bin am Gardasee. Ich glaube es einfach nicht, schon wieder ein Hörsturz? Das kann nicht sein. Nicht schon wieder. Das geht einfach nicht. Es muss einen anderen Grund geben.
Adrenalingefüllt, etwas trotz- und krampfhaft nehme ich meine Trompete und bereite mich auf meinen nächsten Einsatz vor. Ich beschließe, mich durch das Stück zu kämpfen. Vielleicht ist es ja doch nur ein Defekt am Hörgerät. Doch mit jeder Sekunde steigt die Gewissheit: Es kann nur ein Hörsturz sein. Meine Hände zittern leicht, ich ringe um Beherrschung. Doch es gelingt mir mit ach und krach, das Stück durchzustehen.
Endlich ist das Stück vorbei – den Applaus des Publikums kann ich gerade noch wahrnehmen. Wir stehen auf und bedanken uns mit einer Verbeugung für den Applaus. Erleichterung ist in den Gesichtern meiner Blasorchesterkolleginnen und –Kollegen zu sehen. Stille Tränen laufen meinen Wangen herunter aber nicht vor Freude, wegen dem absolvierten Wettbewerb sondern vor Trauer: Vor Trauer, weil ich wusste, wie die nächsten Wochen aussehen würden: unzählige Arztbesuche mit den wildesten Erklärungsversuchen, Existenzängste, Selbstmitleid und Verzweiflung."
Und dieses Gefühl konnte auch der nachfolgend errungene Pokal nicht mildern. Ich freu mich wie immer über eure Kommentare, hier oder an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Bildquelle: www.wiltener.at